Vor 45 Jahren sah die Welt noch ganz anders aus. Der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und dem freien Westen beherrschte das Denken. Jede Leistung, die die Menschen damals erbrachten, wurde dahingehend bewertet, aus welchem Lager sie stammte. Die Sowjets bejubelten, dass sie den ersten Menschen ins All bringen konnten; die Amerikaner konterten mit der ersten Mondlandung. Auch im Sport gab es dieses Lagerdenken: jede Seite versuchte prestigeträchtige Titel zu gewinnen, um die Überlegenheit des eigenen politischen Systems zu demonstrieren.

Intellektuelle Überlegenheit konnte man natürlich besonders gut durch Erfolge im Schachspiel demonstrieren. Das ging sogar in die Filmgeschichte ein. In dem James-Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“ wurde am Anfang eine Schachpartie zwischen dem bösen russischen Agenten Kronsteen (dem Gegenspieler von James Bond) und einem westlichen Gentleman gespielt. Der Böse gewann mit einer genialen Kombination. Diese Partie mitsamt der im Film gezeigten Zugfolge gab es tatsächlich. Sie wurde gespielt vom russischen Schachweltmeister Boris Spassky. Spassky war also zu dieser Zeit das Maß aller Dinge im Schach. Er war 35 Jahre alt, seit 5 Jahren Weltmeister und hatte eine hervorragende Bilanz gegen die besten Spieler der damaligen Zeit. Und noch dazu stand Spassky in einer langen Tradition: seit dem zweiten Weltkrieg kamen ausnahmslos alle Schachweltmeister aus der Sowjetunion. Daraus schöpfen die Russen ein enormes Selbstbewusstsein. Wenn es einem Spieler der westlichen Welt also irgendwie gelingen sollte, Spassky vom Thron zu stoßen, dann würde das einen gewaltigen Prestigegewinn für die westliche Welt bedeuten.

Tatsächlich gab es einen Spieler, dem die Experten eine solche Meisterleistung zutrauten. Und das war der 29jährige Amerikaner Bobby Fischer. Fischer war ein echtes Wunderkind. Schon mit 14 Jahren gewann er die USA-Meisterschaft. Im Alter von 15 Jahren brach er die Schule ab, weil er seiner Meinung nach dort nichts mehr lernen konnte, und wurde kurz darauf der bislang jüngste Schachgroßmeister aller Zeiten. Jede US-Meisterschaft, an der er teilnahm, gewann er auch. In Amerika war er also unbesiegbar. Aber würde er auch gegen die Russen bestehen können? Die russischen Großmeister galten als hochgradig diszipliniert. Sie waren untereinander bestens vernetzt und spielen geheime Trainingspartien auf höchsten Niveau gegeneinander, sodass sie ständig voneinander lernten und immer besser wurden. Fischer hingegen war Einzelkämpfer. Außerdem war er ein berüchtigter Exzentriker. Es fiel ihm schwer, sich an Regeln zu halten, die er nicht selber gemacht hatte. Deshalb kämpfte Fischer immer gegen irgendeine Art von Obrigkeit. Aber wenn er Schach spielte, war er genial. Reihenweise fegte er seine Gegner geradezu vom Brett. Die Großmeister Taimanow und Larsen, die zur Weltspitze gehörten, besiegte er mit dem demütigenden Ergebnis von 6:0. Auch Exweltmeister Petrosjan konnte ihm nichts entgegensetzen. So wurde Fischer schließlich offizieller Herausforderer des Weltmeisters, Boris Spassky.

Im Juli 1972, also genau vor 45 Jahren, sollte der Weltmeisterschaftskampf stattfinden. Es war eines der bedeutendsten Sportereignisse des Kalten Krieges. Plötzlich interessierte sich jeder für Schach, und die Presse bezeichnete das Match als den „Wettkampf des Jahrhunderts“. Ost und West prallten unmittelbar aufeinander. Und der Schachweltmeister Boris Spassky war dabei der Repräsentant der UdSSR, also aus westlicher Sicht der Scherge des Reiches des Bösen, während sein jugendlicher Herausforderer Bobby Fischer der Held der freien Welt war.

Der Austragungsort des Kampfes sollte die Hauptstadt Islands, Reykjavik, sein. Von der Papierform her war Fischer leicht favorisiert. Er hatte durch seine Erfolge in den Qualifikationskämpfen eine sehr gute Elo-Zahl von 2785 Punkten; Spassky kam nur auf 2660 Punkte. Aber psychologisch war eher Spassky im Vorteil, denn er hatte Fischer schon mehrfach besiegt, was seinem Gegner noch nie gelungen war. Außerdem hatten Spasskys Sekundanten jedes Detail im Spiel des Gegners mit wissenschaftlicher Präzision analysiert. Fischers Eröffnungsrepertoire war ein offenes Buch für die Sowjets.

Fischer hatte außerdem das Problem, dass er nicht nur gegen Spassky sondern – wie üblich – auch noch gegen die Organisatoren kämpfte. Und zwar ums Geld. Der Preisfonds betrug zwar bereits 120.000 $, was für damalige Verhältnisse viel Geld war. Zusätzlich verlangte Fischer aber 30% der Einnahmen aus den Film- und Fernsehrechten und weitere 30% der Erlöse aus dem Kartenverkauf – jeweils zu gleichen Teilen zwischen ihm und Spassky geteilt. Als diese Forderungen nicht erfüllt wurden, stornierte Fischer, der eigentlich am 25. Juni 1972 nach Island fliegen sollte, seinen Flug.

Am 1. Juli war er also noch nicht in Reykjavik eingetroffen. Deshalb fand die Eröffnungsfeier im Nationaltheater ohne ihn statt. Am nächsten Tag sollte die erste Partie gespielt werden. Aber Fischer war immer noch nicht abgeflogen. Lothar Schmid, der deutsche Schiedsrichter des Wettkampfs war ratlos, was jetzt zu tun sei. Schließlich setzte der holländische Präsident des Weltschachbunds, Max Euwe, Fischer ein Ultimatum. Wenn er bis zum 4. Juli, 12 Uhr, Ortszeit nicht in Reykjavik vor Ort erschien, dann war seine Chance, Weltmeister zu werden, endgültig verspielt.

Am 3. Juli sah die Lage für die freie Welt schlecht aus. Fischer war immer noch im Haus von seinem Freund, dem amerikanischen Schachmeister Anthony Saidy in New York und schmollte. Doch dann verkündeten die Nachrichtensender weltweit eine Sensation: der britische Finanzmann James Slater hatte von sich aus den Preisfonds um weitere 125.000 $ erhöht. Noch am gleichen Tag rief Henry Kissinger, der damals nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten der USA war, aus Washington bei Fischer an: „Hier ruft der schlechteste Schachspieler der Welt den besten Schachspieler der Welt an“, soll er gesagt haben, und: „Amerika will, dass du dahin fährst und die Russen schlägst. Beweg deinen Hintern nach Island.“ Kissinger bekam übrigens später den Friedensnobelpreis. Aber nicht für seine Verdienste um das Schachspiel, sondern dafür, dass er den Vietnamkrieg beendete.

Am gleichen Abend wurde Fischer von den US-Behörden zum John F. Kennedy Flughafen gebracht. Dort sollte gegen 19:00 Uhr ein Flugzeug nach Island starten, das allerdings ausgebucht war. Man musste also mit den Passagieren der Maschine, die schon auf dem Rollfeld stand, verhandeln. Am Ende erklärten sich einige von ihnen im nationalen Interesse dazu bereit, einen späteren Flug zu nehmen. Um 22:04 startete das Flugzeug, etwa drei Stunden später als geplant aber mit Bobby Fischer an Bord.

In den frühen Morgenstunden des 4. Juli 1972, knapp zehn Stunden vor Ablauf von Euwes Ultimatum, kam Fischer schließlich in Island an. Am Flughafen erwarteten ihn internationale Pressevertreter und verschiedene isländische Würdenträger. Aber Fischer ignorierte sie alle und ließ sich umgehend nach Reykjavik bringen. Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde. Dann war Fischer vor Ort; das Ultimatum hatte er eingehalten. Aber mittlerweile war aus einem ganz anderen Grund unklar, ob das Match noch stattfinden konnte.

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